Beschluss: Kenntnis genommen (kein Beschluss erforderlich)

Der Vorsitzende eröffnet die öffentliche Sitzung und stellt die Beschlussfähigkeit fest. Er ruft beiliegende KT-Drucksache Nr. IX-0271 auf, die den Mitgliedern des Gremiums rechtzeitig zugegangen war. Er begrüßt Herrn Dr. Bürger vom Kommunalverband für Jugend und Soziales, der bereits bei der Klausurtagung des Jugendhilfeausschusses am 29.04.2015 auf dem Hofgut Hopfenburg in Münsingen einen interessanten Vortrag gehalten habe.

 

Herr Dr. Bürger trägt mithilfe beiliegender Präsentation ausführlich den Sachverhalt vor. Das Statistische Landesamt habe im Dezember 2015 ganz unerwartet nochmals eine neue Bevölkerungsvorausrechnung vorgelegt. D. h. die Daten, die er jetzt verwende, seien noch aktueller als die in der Broschüre gemäß der Anlage zur KT-Drucksache dargelegt. Die Präsentation werde den Mitgliedern des Kreistags im Nachgang zur Sitzung versendet.

 

Ein alter Leitgedanke in der Kinder- und Jugendhilfe laute: „Keiner darf verloren gehen.“ Dies gelte auch heute noch. Bildung sei entschieden mehr, als das was in der Schule passiere. Wichtig sei dabei auch die offene und verbandliche, aber auch die Vereinsarbeit.

 

Kreisrat Münzing bemerkt, das Thema wäre es wert gewesen, hierfür eine eigene Kreistagssitzung vorzusehen. Die Themenfülle wäre es wert, diese nicht nur im Rahmen einer Haushaltsberatung zu erörtern, insbesondere das Thema Bildung. Der Landkreis habe in der Vergangenheit in vielen Bereichen nachjustiert und nachgesteuert. Er bedanke sich für die aktualisierten Zahlen des KVJS. Der Kreistag solle die begonnenen Wege weitergehen und noch mehr ausbauen. Man stehe vor gesellschaftspolitischen Zerreißproben und Herausforderungen, denn es werde einen Ressourcenkampf geben, wenn kein Ausgleich gelinge.

 

Kreisrat Dr. Fiedler freut sich über die Entwicklung bei den 3- bis unter 6-Jährigen. Man erlebe den Verteilungskampf jetzt schon. Zwei Aussagen seien wichtig: Kinder- und Familienpolitik sei keine Klientelpolitik, sondern volkswirtschaftlich und sozialpolitisch notwendig. Man könne der Altersarmut nur begegnen, wenn man weiter in Familien und Kinder investiere. Dort seien 2 Bereiche wichtig, zum einen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, außerdem das Thema Bildung, gerade in den nicht klassischen Bildungsräumen. Die Zeit dränge. Der Dialog müsse intensiviert werden, nicht nur im Rahmen der Haushaltsdebatten.

 

Kreisrätin Braun-Seitz betont, kein Kind dürfe verloren gehen. Sie frage nach der von Herrn Dr. Bürger genannten Beschäftigungsquote von 75 %, diese beziehe sich doch sicher nur auf den ersten Arbeitsmarkt. Sie wolle auch die vielen jungen Menschen und Menschen mit Handicaps ins Blickfeld rücken - es gebe im Landkreis die Inklusionskonferenz - und frage, welche Potenziale Herr Dr. Bürger sehe.

 

Herr Dr. Bürger legt dar, um diese Frage fundiert beantworten zu können, müsse man erst einmal Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse sowie der Ressourcen und Möglichkeiten haben. Es gehe insgesamt darum, Rahmenbedingungen zu schaffen für das Hineinwachsen in die Erwerbstätigkeit für Menschen, die es im ersten Anlauf nicht geschafft hätten. Entscheidend sei es, das vor Ort in den Gemeinwesen zu gestalten. Dies sei eine zentrale Herausforderung. Man brauche aber auch eine kreisweite Gesamtschau. Eine wirkungsvolle und sozial bezahlbare Infrastruktur könne nur aufrechterhalten werden, wenn man gemeindegrenzenübergreifende Kooperationen anstrebe.

 

Kreisrat Buck ist dankbar, dass man den Gedanken bei der Klausurtagung des Jugendhilfeausschusses umgesetzt habe und das Thema heute im Kreistag behandle. Seiner Fraktion gefalle nicht, dass manchmal die Ausgaben für die Jugendhilfe als Kostenfaktor gesehen würden. Man müsse hinter die Zahlen schauen. Der Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Herkunft sei wichtig. Eine zahlenmäßig sinkende Gesellschaft werde allerdings zu häufig als Katastrophe an die Wand gemalt. Man müsse die Entwicklung akzeptieren. Herr Dr. Bürger habe dem Kreistag Hausaufgaben gegeben, dies sei gut und wichtig. Er wolle wissen, welche Bedeutung Herr Dr. Bürger den jungen Volljährigen zwischen 18 und 21 Jahren bzw. den bis 27-Jährigen beimesse. Er wünsche sich, diesen Stil beizubehalten und Vorträge auch zu anderen Themenbereichen im Kreistag zu halten.

 

Herr Dr. Bürger teilt mit, hinsichtlich der Leistungen nach § 41 SGB VIII, Hilfe für Jugendliche und junge Volljährige, weise er darauf hin, aktuelle Untersuchungen hierzu würden Ende nächsten Jahres vorgestellt. In diesem Bereich habe man jedenfalls in den letzten Jahren in Baden-Württemberg eher steigende Ausgaben gehabt, gleichwohl seien die Verhältnisse in 44 Stadt- und Landkreisen unterschiedlich.

 

Kreisrat Weller hält es für wichtig, ständig über den demografischen Wandel zu sprechen. Herr Dr. Bürger habe bei den Familien immer wieder die Zahl der unter 21-Jährigen genommen und dort die Schwächung der Familie abgeleitet. Es gebe natürlich auch ein paar ältere und ein paar ganz alte Menschen, die in funktionierenden Familienbünden zur Stärkung der Familie beitragen würden. Zur systematischen Frage der Abgrenzung der ab 65-Jährigen wolle er wissen, ob man nicht mit Blick auf die sich bis ins Jahr 2031 verschiebende Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung zumindest eine kleine Korrektur anbringen müsse. Man betrachte im Kreistag die Kinder- und Jugendhilfe zu Recht oft aus dem Blickwinkel des Sichkümmerns um benachteiligte Kinder aus bildungsfernen Schichten. Man müsse an die ganze Breite denken, da tue man auch viel, zum Beispiel im Bereich der Tagesmütter. Der quantitative und qualitative Ausbau im Hinblick auf die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sei wichtig. Bildung und Wertevermittlung sei ein weiterer wichtiger Kernbereich. Herr Dr. Bürger habe dem Landkreis Reutlingen bei vielen Dingen einen ordentlichen Rankingplatz bescheinigt. Auch die Ausgaben würden ständig steigen. Er wolle wissen, ob Herr Dr. Bürger einen Rat habe, ob man eine gewisse Erfolgskontrolle einzelner Investitionen, Trägerschaften, Schwerpunktsetzung, die man zum Beispiel im Bereich der Schulsozialarbeit oder Kindertagespflege habe, ableiten könne, die einem irgendwann sage, ob der Kurs aus Zahlen abgeleitet passe, ob sich Dinge infolgedessen verhindern, oder ob es immer etwas sei, was auf allgemeinen Erkenntnissen aufbauend in konkrete Entscheidungen münde, ohne konkrete Erfolgskontrolle.

 

Herr Dr. Bürger weist darauf hin, er mache den Altersklassenzuschnitt 21 Jahre bis unter 65 Jahre deshalb, da das tatsächliche Renteneintrittsalter in Baden-Württemberg derzeit bei 63 Jahren liege. Ein Renteneinstieg mit 67 Jahren sei nicht real. Er befürchte eine Erhöhung der Altersarmut. In den gestrigen Nachrichten habe es sogar eine Diskussion um ein Renteneintrittsalter von 71 Jahren gegeben. In seinem nächsten Bericht werde er gleichwohl ein Szenario mit 65 Jahren und ein Szenario mit 67 Jahren darlegen. Wohl ähnlich sei es bei den unter 21-Jährigen. Natürlich wisse er, dass in Familien durchaus auch mit Älteren und Kindern generationenübergreifend eine Menge laufe. Man habe in allen Landkreisen steigende Ausgaben zu verzeichnen. Dies habe mit dem gesellschaftlichen Wandel zu tun. Zur Frage des Erfolges weise er darauf hin, man überlege beim KVJS, ein Evaluationsprojekt zum Thema Schulsozialarbeit aufzulegen. Jugendhilfe sei zwar teurer geworden, aber Geld sei in diesem Bereich wirkungsvoll und gut angelegt.

 

Kreisrat Herrmann widerspricht, Herr Dr. Bürger habe eine dunkle Zukunft dargestellt, die man durch Geld für die Familien und Kinder- und Jugendhilfe erhellen könne. Man unternehme schon viel in diese Richtung, sowohl Kommunen als auch Landkreis. Der Landkreis sei an seiner finanziellen Grenze angelangt. Konsequenz wäre, Gelder umzuschichten. Er halte dies aber für problematisch. Kommunen und Landkreise hätten ein breites Aufgabenspektrum, zentraler Punkt sei, was überhaupt finanziell machbar sei. Auch der Landkreis nehme sehr viel Geld in die Hand, die Fallzahlen würden steigen. Zuwanderung sei nicht die einzige Chance, diese koste außerdem eine Menge Geld. Er wolle nicht das Flüchtlingsthema mit reinbringen, aber die Zuwanderung koste in der Bundesrepublik zwischen 30,0 und 50,0 Mrd. EUR im Jahr. Diese Gelder würden anderswo fehlen. Zuwanderung sei zunächst an Investitionen gebunden und lande nicht automatisch in einem wirtschaftlich positiven Ergebnis, sondern eher in den sozialen Auffangnetzen, dies sei ein Hauptproblem.

 

Herr Dr. Bürger bemerkt, man könne natürlich andere Einschätzungen haben. Allerdings koste Zuwanderung mitnichten zunächst Geld. Der wirtschaftliche Aufschwung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg sei nur durch Zuwanderung möglich gewesen. Er verweise auf den Gesamtbericht des KVJS, dass Zuwanderung im Nettobetrag der Bundesrepublik viel mehr bringe als sie koste, und historisch sei es evident. Was die finanzielle Seite angehe sehe der KVJS vier Denkrichtungen, wie das finanziell anzugehen sei, wobei nicht nur die Kommunen bezahlen müssten, sondern es gebe ein Wechselspiel zwischen Kommunen, Land und Bund. Die vier Denkrichtungen des Verbandes seien, nicht alle Kommunen seien arm, in Baden-Württemberg schon gar nicht. Der Verband habe gefordert, dass in der Finanzierung der Kinder- und Jugendhilfe die kommunale Seite dringend auf der Ebene des Wechselspiels von kommunaler Seite und Land strukturell entlastet werden müsse. Er verweise auf den Ausbau des U3-Betreuungsangebotes und der zur Verfügung gestellten Milliarden Euros des Bundes. Auch die letzte Landesregierung habe viel Geld zur Verfügung gestellt. Man könne also nicht sagen, alles sei von den Kommunen zu bezahlen. Diese Finanzbeziehungen müssten austariert werden. Das Dritte sei, dass man darüber hinaus grundlegend die Finanzierung und die Finanzbeziehungen von Kommunen, Land und Bund im Gesamtspiel der sozialen Sicherungssysteme neu diskutieren müsse. Die Grundsicherung im Alter sei aus der kommunalen Haushaltszuständigkeit in die Bundeszuständigkeit übergegangen. Er wolle keine dunklen Wolken an den Himmel malen, sondern nur einen Wetterbericht abgeben. Er sei optimistisch. Viertens sei man noch lange nicht an der finanziellen Grenze angelangt. Laut OECD-Vergleichsstudie, wie viel des Bruttoinlandsproduktes eine Gesellschaft in Bildung investiere, liege man in der Bundesrepublik unter dem Durchschnittswert. Letztendlich beinhalte seine Argumentation am Beispiel der Grundsicherung im Alter einen Taschenspielertrick, linke Tasche - rechte Tasche. Man komme als Gesellschaft insgesamt nicht daran vorbei, wenn man den demografischen Wandel bewältigen wolle, über die Verteilung finanzieller Ressourcen neu zu diskutieren. Dies sei eine politische Aussage. Eine um 5 % höhere Steuer wäre nach seiner Meinung von allen leistbar.

 

Der Vorsitzende beendet die Diskussion hinsichtlich der Verteilung der Mittel zwischen Bund, Land und Kommunen (innerhalb Städte und Gemeinden), wer also was bezahle.

 

Kreisrat Heß fragt, ob es eine Prognose für den Landkreis Reutlingen ohne die Stadt
Reutlingen gebe.

 

Herr Dr. Bürger hat keine solche Berechnung angestellt. Der Kreis Reutlingen sei nicht anders als zum Beispiel die Kreise Tübingen, Ludwigsburg, Esslingen oder Böblingen. In jeder Analyse gebe es einen Verdichtungsraum. Natürlich sei es gut, kleinräumig in den Landkreis hineinzuschauen, das sei aber bei allen Landkreisen gleich.

 

Kreisrätin Braun-Seitz bemerkt zu Kreisrat Herrmann, man habe auch deswegen im Landkreis wenig Spielraum, da der Kreisumlagehebesatz oft zu niedrig sei. Man müsse gelegentlich das gewohnte Prozedere ändern. Klar müsse man auch in Straßen und Infrastruktur investieren, aber Menschen seien am Wichtigsten. Sie geht kurz auf die Bundes- und Landespolitik ein.

 

Kreisrat Weller bittet darum, beim Thema des Tagesordnungspunktes zu bleiben und keine allgemeinpolitische Diskussion zu den Finanzbeziehungen zwischen Bund, Land und Kommunen zu führen.

 

Der Vorsitzende geht kurz darauf ein. Man habe sich 2008 auf den Weg gemacht, das Thema demografische Herausforderung aufzurufen. Man habe in Pfullingen einen städtebaulichen Kongress zu diesem Thema gehabt und man habe Herrn Dr. Bürger in den Jugendhilfeausschuss eingeladen. Das alles habe sich gelohnt. Die Wirklichkeit lasse sich gestalten. Es sei richtig, dieses jetzt aufzurufen, bevor man im Herbst das Thema Haushalt miteinander zu diskutieren habe. Man müsse sich ehrlich machen und werde die Frage der Prioritätensetzung diskutieren müssen, die Ressourcen seien endlich. Man habe im Landkreis
Reutlingen eine Priorität beim Thema Schulsozialarbeit, beim Thema Mobile Jugendarbeit und bei den Tagesmüttern gesetzt. Er fühle sich darin bestärkt. Man müsse sich Gedanken über die diesjährigen und die künftigen Haushaltsberatungen machen und rechtzeitig die Weichen stellen. Man werde Herrn Dr. Bürger erneut einladen.